Lexikon der Tugenden: Zartheit

Bild Lexikon der TugendenDie letzten Jahre waren geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.

Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“

Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.

Zartheit (Zärtlichkeit)

Die Zartheit (Zärtlichkeit) ist auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Tugend, bei der wir zuerst an Liebende denken - und das mit Recht. Aber diese Tugend soll unser gesamtes Leben bestimmen, alle Bereiche unseres Denkens und Handelns. Die Zartheit beginnt also bereits im Kopf. Ich kann schlecht, abfällig oder wütend über jemanden denken und ihm nichts Gutes wünschen. Ich kann mich aber auch besinnen, die Gedanken in sanftere Worte formen und den besagten Mitmenschen von einer anderen, guten Seite entdecken. Genauso verhält es sich mit meinem Verhalten mir selbst gegenüber. Bei einem Missgeschick oder Fehler kann ich mich beschimpfen, entwerten und niedermachen. Aber das macht den kleinen Patzer nur umso schlimmer. Viel hilfreicher ist es, achtsam und besonnen mit sich selbst umzugehen. Das heißt, ich achte darauf, dass ich gute Gedanken hege, die mich von zerstörerischer Selbstanklage befreien. Und die Besonnenheit verhilft mir zu einem realistischen Blick auf meine Stärken und Schwächen, Angewohnheiten und Unarten. Dieser Blick ist nicht streng, sondern mild und verständnisvoll.

Und wie zeigt sich diese Tugend im Umgang untereinander? Es gibt Menschen, die bei räumlicher Enge, wie in einer vollen Straßenbahn, schubsen und drängeln. Andere hingegen können sich rücksichtsvoll ihren Stehplatz sichern. Nicht selten erkennt man jemanden bereits am Sprechen. Manche haben eine harte Aussprache und einen aggressiven Tonfall, unabhängig von der Wortwahl, dass man sich fragt, wie es wohl um diese Seele bestellt sei. Bei anderen dagegen klingt die Stimme angenehm sanft und warm, wie Musik.

Die Tugend der Zartheit hat ihre Bestimmung auch allem Materiellen gegenüber. Es gibt ausgemachte Grobiane, die derb und polternd sind. Alles, was sie in die Finger bekommen, wird malträtiert, abgenutzt und vorzeitig verschlissen. Doch wie angenehm sind Menschen, die mit allem vorsichtig umgehen. Sie wissen um die Mühe, die vorher andere in dieses Werkstück investiert haben und behandeln es deshalb schonend und mit Wertschätzung. Und nicht zuletzt geht es um den Umgang mit der Schöpfung. Da lässt man weder Pflanzen noch Lebensmittel achtlos verderben, da wird kein Zweig gedankenlos abgeknickt und ein Käfer auf dem Wege nicht einfach totgetreten. Man weiß um Gottes gute Schöpfung, dass alles seinen Platz und seinen Wert hat. Alles will mit Umsicht gepflegt und bewahrt werden. Zusammenfassend kann man feststellen: Die Tugend der Zartheit lässt Menschen mit sich und anderen, mit allem Materiellen und mit der Natur behutsam und mit großer Achtsamkeit umgehen. Schließlich wird mit dieser Einstellung, diesem Verhalten auch der Schöpfer geehrt.

Gundolf Lauktien