Lexikon der Tugenden: Weisheit

Bild Lexikon der Tugenden2020 und 2021 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.

Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“

Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.

Weisheit

Die Weisheit ist die Königin unter den (Kardinal-)Tugenden. Mag die Mäßigung die „Mutter aller Tugenden“ sein, so ist es in letzter Konsequenz doch die Weisheit, die immer das rechte Maß erkennen lässt.

Weisheit hat zuerst einmal mit Wissen zu tun. Menschen, die sich viel Wissen aneignen, können die Dinge des Lebens aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und so zu einem ausgewogenen, objektiven Urteil kommen. Das heißt, sie sind in der Lage, Wissen aus den unterschiedlichsten Gebieten miteinander zu verknüpfen, was nicht jedem gegeben ist. Viele Spezialisten und Fachleute besitzen ohne Frage auf ihrem Gebiet hohe Detailkenntnisse. Doch der weise Mensch kann in sogenannten „kausalen Zusammenhängen“ denken und zu übergreifenden Schlussfolgerungen gelangen. Kein Wunder, dass man ihnen gerne zuhört und sie um Rat fragt, selbst dann, wenn sie sich nicht scheuen zuzugeben: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ (Sokrates) Diese Menschen verfügen also über etwas, dass man letztlich dann doch nicht aus Büchern oder aus dem „Netz“ erlernen kann. Es bleibt eine besondere Wesensart, eine Gabe, die schließlich tugendhaft zum Ausdruck kommt, z.B. mit einem taktvollen Wort, sachlich ausgewogen und dabei unaufdringlich und bescheiden. Besonders in Konfliktsituationen, bei Streitgesprächen gießen sie kein Öl ins Feuer, polarisieren nicht, sondern tragen mit ausgleichender Besonnenheit zur Schlichtung bei. Der weise Mensch hat ein Gespür für das rechte Wort zur rechten Zeit. Er kann geduldig warten und den entscheidenden Augenblick erfassen. Es gibt viele intelligente Menschen mit einer hohen und schnellen Auffassungsgabe. Aber viel Wissen ist noch lange nicht Weisheit. Diese Tugend, lateinisch sapientia, hat einen anderen Ursprung. Sapio heißt kosten, schmecken, riechen, im weiteren Sinne auch durchkauen – und genau diese Art des Einverleibens von Wissen braucht Zeit, dieses Verinnerlichen vom Kopf zum Herzen will wachsen und reifen. 

In der Bibel gibt es einen großen Abschnitt „Weisheitsliteratur“ (Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger und das Hohelied), der eine Vielzahl an Glaubens- und Lebensweisheiten in verschiedenster Form bietet. Dabei kommt einer Lebensweisheit eine zentrale Bedeutung zu: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. Klug sind alle, die danach tun.“ (Psalm 111, 10/Man lese Furcht im Sinne von Ehrfurcht). Der glaubende Mensch hat gelernt, seine Position, seinen Platz als geschaffenes Wesen gegenüber dem Schöpfer zu akzeptieren. Er überschätzt sich nicht, ist nicht vermessen zu meinen, das Leben selbst in der Hand zu haben und meistern zu können. Er weiß um des Menschen Grenze und um Gottes Größe. Dieses Wissen macht ihn nicht klein, sondern weise.

Gundolf Lauktien