Lexikon der Tugenden: Muße

Bild Lexikon der Tugenden2020 und 2021 war geprägt von Tugenden wie Anteilnahme, Disziplin, Großzügigkeit Hilfsbereitschaft, Hingabe oder Respekt. Die preußischen Tugenden mit denen Friedrich II. in Verbindung gebracht wurde, lauten beispielsweise: Disziplin, Fleiß, Gehorsam oder Treue. Teils wurden diese Tugenden als altmodisch und als ein Relikt überwundener Zeiten belächelt. Teils wurde beklagt, dass im Zuge des Werteverfalls kaum noch jemand weiß, was denn Tugenden überhaupt sind. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass Tugenden wichtig sind.

Der „Brockhaus“ erklärt diesen Begriff sinngemäß so: „Gesellschaftlich anerkannte Maßstäbe und Werte, die man mit sittlicher Festigkeit und Tüchtigkeit lebt und vervollkommnet.“

Schlicht gesagt: Das Gute erkennen und tun. Was das konkret bedeutet, soll nun mit einer Fortsetzungsreihe von einigen Tugenden erklärt werden.

Muße

Die Muße ist auf den ersten Blick die vielleicht sympathischste aller Tugenden. Bei ihr schwingt nichts Ermahnendes oder Forderndes mit wie z. B. bei Fleiß oder Pünktlichkeit. Muße klingt leicht und verspielt, eben wie Musik. Nach der griechischen Mythologie war eine der Musen ja auch für Musik zuständig und im Allgemeinen galten sie als die Wächterinnen über die Künste.

Aber mit dieser Leichtigkeit tun wir uns heute schwer, was sich schon in Redewendungen durch Negativformulierungen zeigt: „Dazu habe ich keine Muße.“ als Ausdruck für kein Interesse oder „keinen Bock auf etwas haben“. Noch schwerwiegender ist der Satz, der eine grundsätzliche Denkweise, ja eine Lebenshaltung zum Inhalt hat: „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Gewarnt wird vor dem nutzlosen Abhängen, Chillen und stumpfen Faulenzen, bei dem man auf dumme Gedanken kommt. Das muss verhindert werden und deswegen heißt es: „carpe diem – nutze den Tag“, denn „time is money“! Durch dieses Missverständnis, man kann auch sagen, durch die Angst, dass aus Muße Müßiggang wird, wurden die Menschen gerade in der westlichen Wohlstandswelt nicht nur zu dauerhaft  Beschäftigten, sondern zu Gehetzten und Getriebenen, die keine Muße mehr kennen. Denken wir nur ans Telefonieren. Zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten sieht man Leute mit dem Handy. Ich gebe zu, ich mag es nicht besonders, wenn ich angerufen werde und merke, wie mein Gesprächspartner am anderen Ende noch nebenbei etwas anderes erledigt, auf der Tastatur klappert oder abwäscht. Dann frage ich mich, wer oder was jetzt eigentlich wichtiger ist, der Abwasch oder das Telefonat? Was für eine Wohltat sind Menschen, die bei einem Gespräch das Handy ausschalten und sich ganz und gar auf ihr Gegenüber einlassen. Kinder spüren sehr genau, ob die Eltern die eine Stunde Zeit für sie „opfern“ und doch fahrig mit Gedanken woanders sind oder ob Mutter und Vater sich wirklich auf sie einlassen, mit Kopf und Herz.

Die entscheidenden Voraussetzungen für die Muße sind das bewusste Unterbrechen des Alltäglichen, das Abschalten und Innehalten. Man sorgt für Ruhe und nimmt sich Zeit, um auch gedanklich zur inneren Ruhe zu finden – also genau das, was das neue Modewort Entschleunigung meint. Aber Muße bedeutet noch mehr: Freudige, ja lustvolle Hingabe an eine schöne Sache, der ich mich ganz und gar widme. Oder das aufmerksame, ungeteilte Sich-Einlassen auf einen Menschen, der mir für Augenblicke meines Lebens ein Gegenüber, ein Mitmensch ist. Denken wir an Abraham, wie viel Zeit er sich für die Bewirtung der drei Gäste nahm. Oder Maria, die den richtigen Zeitpunkt erkannte, um die Arbeit einfach mal ruhen zu lassen, und schließlich Jesus, der immer wieder die ungestörte Stille suchte. Wie viel mehr brauchen wir heute die Tugend der Muße!

Gundolf Lauktien